Kampagne “Behandeln statt verwalten” der BAFF und des IPPNW

Liebe Leser*innen,
wir möchten Sie auf die Kampagne “Behandeln statt verwalten” der BAFF und des IPPNW hinweisen. Den Informationsflyer können Sie hier herunterladen:
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Den vollen Text des Flyers können Sie auch direkt hier lesen:
Ausgangslage:
„ Die Mitgliedsstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, die Folter, Vergewaltigung oder andere schwere Gewalttaten erlittten haben, im Bedarfsfall die Behandlung erhalten, die für Schäden, welche ihnen durch die genannten Handlungen zugefügt wurden, erforderlich ist.“ (Artikel 20 der EU –Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003.) Diese Verpflichtung hat auch die Bundesrepublik Deutschland übernommen. Bis heute ist allerdings
diese Richtlinie trotz gegenteiliger Behauptung der Bundesregierung nicht umgesetzt. Die EU –Kommission mahnt in ihrem Bericht vom November 2007 deshalb auch zu Recht an: „ Das
Eingehen auf die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Personen gehört zu den Bereichen, in denen die größten Mängel bei der Anwendung der Richtlinie festgestellt wurden.“ (Komm
2007 745 vom 26.11.2007)
Was brauchen besonders schutzbedürftige Flüchtlinge?
Man nimmt an, dass 30 – 40% aller nach Europa kommenden Flüchtlinge durch erlittene menschenrechtswidrige Gewalttaten traumatisiert sind und an einer der vielen reaktiven Traumafolgestörungen leiden: posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), depressive Erkrankung, Angststörungen, dissoziative Störungen, Somatisierungsstörungen, dissoziales Verhalten, Persönlichkeitsveränderungen, Psychosen. Diese sowie Kinder, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere und Alleinerziehende bedürfen eines besonderen Schutzes und besonderer Maßnahmen. Sie brauchen einen Ort, wo sie sich aufgehoben und wieder
Vertrauen in sich und ihre Umgebung schaffen können, sie brauchen Sicherheit, nicht mehr in die Situation, der sie gerade zu entkommen versucht haben, zurückgestoßen zu werden, sie bedürfen einen geschützten Ort, wo sie in Ruhe und ohne zeitliche Vorgaben ihre
traumatischen Gewalterfahrungen aussprechen und ablegen können, sie brauchen Lebensbedingungen, in denen sie ihre inneren, oft verschütteten Ressourcen wiederentdecken und erneut zur Entfaltung bringen können, ihnen sollten Fachleute in niederschwelligen Angeboten zur Verfügung stehen, die ärztliche, psychotherapeutische, psychosoziale und interkulturelle Kompetenzen vereinigen können. Meist können nur interdisziplinäre Netzwerke aus verschiedenen Fach-Berufsgruppen die erforderlichen Ressourcen für deren Rehabilitation bereitstellen.
Neben den materiellen und personellen Vorraussetzungen sind es insbesondere die rechtlichen und sozialen Lebensbedingungen, die entweder die traumatische Erlebnisse in die eigene Biographie zu integrieren zulassen oder sie an ihrer Be- und Verarbeitung hindern und nur noch im Gedächtnis abspalten lassen.
Wie sieht allerdings die Realität aus?
Nachdem Flüchtlinge nach häufig vielen Jahren erlittener physischer und psychischer Verletzungen sich endgültig entschließen, ihr Land zu verlassen und sich auf eine ihnen
unbekannte, wenig sichere Flucht zu begeben, nachdem sie auf der Flucht selbst häufig weitere lebensgefährliche Erlebnisse haben bewältigen müssen und endlich meist hoffnungsvoll das sicher geglaubte Europa betreten haben, sind sie in der Regel nicht in der
Lage, über ihre Vergangenheit zu sprechen, noch viel weniger haben sie die entsprechende Kraft, sofort damit auseinander zu setzen. Den wenigsten ist es bewußt, dass sie seelische Verletzungen mit sich herumtragen. Sie sind zunächst damit beschäftigt, sich in der Fremde zu orientieren, einzugewöhnen und eine neue Existenz zu sichern. Diese in der Traumabehandlung allgemein anerkannte Phase der (Selbst)-Stabilisierung wird bei Flüchtlingen durch ihre soziale und rechtliche Situation unmöglich gemacht. Die immer noch
auf Abschreckung beruhende Politik soll diesen Menschen die Lebensbedingungen in Deutschland so schlecht wie möglich machen, damit sich diese Menschen nicht weiter integrieren, sondern wieder in ihr Herkunftsland „freiwillig“ zurückkehren. Dafür hat sich im Laufe der letzten 20 Jahren ein ausgefeiltes System aus Ausgrenzung, Isolierung, einschränkenden Vorschriften, Rechtlosigkeit, totales Verwaltet werden und unzureichende
Existenzsicherung etabliert Dazu gehören die Zwangsunterbringung in Gemeinschaftsunterkünften (meist jahrelang), häufig weit weg von jeglicher gesellschaftlicher
Aktivität, die Residenzpflicht, Unmöglichkeit des Zuganges zum Arbeitsmarkt oder gar Arbeitsverbot, Essenspakete und andere „kreative“ Sachleistungssysteme, Absenkung der Sozialhilfe, Beschränkung der medizinischen Hilfe auf akute Erkrankung.
Dieses führt bei den betroffenen Menschen sehr schnell zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Angst, Unsicherheit, Ohnmacht und Willenlosigkeit. Die Folgen sind Resignation, Hoffnungslosigkeit, fehlende Zukunftserwartungen und Mutlosigkeit. Bei traumatisierten Menschen setzt sich somit der Prozeß der traumatischen Verletzungen weiter fort, die Erinnerungen an die alten traumatischen Erlebnisse werden regelmäßig reaktiviert. Sie
verstummen erst recht. Damit können sie nicht identifiziert und in ihren besonderen Bedürfnissen erkannt werden.
Hinzu kommt ein Mangel an entsprechenden Fachleuten und Institutionen, die ihnen diesen Zugang zur eigenen Vergangenheit öffnen oder zumindest offen halten. Es gibt kein entsprechendes offenes Beratungssystem. Das Gesundheitsversorgungssystem ist in keiner Weise auf diese Gruppe von Menschen vorbereitet, es fehlt an Konzepten für eine adäquate medizinische, psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung, es fehlt an ausgebildeten Dolmetschern, Sprach –und Kulturmittlern sowie in interkulturellen Fragen kompetente Fachpersonal, es fehlt allerdings auch häufig ein Wille, bzw. die Vorstellung, im
interkulturellen Setting zusammen mit Dolmetschern arbeiten zu können und somit die Kommunikation sicher zu stellen. Die wenigen Fachleute, die sich bisher auf dieses persönlich bereichernde Arbeitsfeld eingelassen haben, kommen sehr schnell an ihre
physischen und psychischen Grenzen, nicht wegen der „schwierigen“ Patienten, sondern in erster Linie wegen den unzureichenden Rahmenbedingungen. Das fängt mit den häufig nicht ernstgenommenen sorgfältig ausgearbeiteten Attesten, Stellungnahmen oder gar Begutachtungen für Behörden und Gerichten an, die die notwendigen Ressourcen zugunsten
von Schreiben an eine übermächtige Verwaltung verschlingen, und hört nicht damit auf, die berechtigte Verzweifelung, Ratlosigkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit der eigenen Patienten zu
übernehmen und sich resignativ angenehmeren Arbeitsbedingungen in anderen Berufsfeldern
zuzuwenden.
Die dritte bisher nicht umgesetzte Vorraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist die fehlende Bezahlung. Werden entsprechend qualifizierte Dolmetscher und Dolmetscherinnen
gefunden, werden deren notwendigen Kosten von den Krankenkassen nicht übernommen. Das gilt auch für entsprechende Reisekosten, wenn, wie im Flächenstaat Baden – Württemberg,
Menschen zwei Stunden Anfahrt haben, um zumindest eine Minimalversorgung zu bekommen. Die Behandlungskosten für Therapeuten bezahlen die Sozialämter in der Regel
nur nach einem sehr aufwändigen Antragsverfahren und orientieren sich nur an den Qualifikationen im herkömmlichen Gesundheitswesen. Dabei wird nicht beachtet, dass schon
seit Jahren in den psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer wichtige Erfahrungen mit dieser besonders vulnerablen Patientengruppe gemacht wurden und diese Expertise erst noch ins Regelversorgungssystem einfließen muß. Das Fachwissen wird nicht entsprechend honoriert oder beachtet. Die finanzielle Existenz der Arbeit in diesen Zentren ist nicht gesichert und bedarf jedes Jahr der kreativen Suche nach neuen finanziellen Ressourcen.
In den meisten Fällen helfen nur kurzfristig mobilisierbare private Spenden, um zumindest eine minimale gesundheitliche Versorgungsstruktur sicherzustellen. Hinzu kommt das
institutionelle Mißtrauen gegenüber der fachlichen Qualität der Arbeit in diesen Zentren,  so dass häufig das dort ansässige Fachpersonal sich für ihre Einschätzung und Bewertungen vor
Behördenvertretern und Verwaltungspersonal noch rechtfertigen und ihre Arbeit legitimieren müssen.
Die Kampagne beHandeln statt Verwalten
Seit Jahren versuchen die in der BAFF (bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer) zusammengeschlossenen Zentren durch beharrliche Lobbyarbeit, auf diesen Mangel in der Versorgung traumatisierter Flüchtlinge hinzuweisen und Änderungen anzumahnen. Bisher verfolgen Ministerien, Parteien und Abgeordnete (bis auf wenige Ausnahmen) in den Parlamenten eine Politik des Wegsehens und Übersehens.
Verwaltungen vor Ort verweisen immer wieder auf die engen rechtlichen Rahmenbedingungen, die ihnen angeblich keinen Spielraum für großzügigere Entscheidungen belassen. Ärzte, Psychotherapeuten, Fachverbände und Wohlfahrtsverbände wenden sich achselzuckend mit dem Hinweis auf fehlende Expertise oder nicht vorhandene finanzielle und personelle Ressourcen ab.
Deshalb hat nach einjähriger Vorbereitung die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF) und die IPPNW – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. eine bundesweite Kampagne zur Aufklärung und
Sensibilisierung zur Notwendigkeit der Unterstützung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge gestartet.
Die drei Hauptforderungen lauten:
1. Das frühzeitige Erkennen der körperlichen und seelischen Erkrankungen
2. Der gesicherte und barrierefreie Zugang zu qualifizierter Behandlung (schließt das Recht auf Behandlung in der Muttersprache mit ein)
3. Eine interdisziplinäre Beratung und Begleitung Zielgruppen:
Bisher konnten einige Fachverbände z.B die Bundesärztekammer, die deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie, einige Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie sowie eine Reihe von prominenten Persönlichkeiten für diese Kampagne begeistert werden.
Zielgruppen sind zum einen einzelne Beschäftige im Gesundheitsversorgungssystem, weitere Fachverbände, Vertretungen verschiedener Heilberufe, weitere Wohlfahrtsverbände, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Flüchtlingsunterstützergruppen, Menschenrechtsgruppen. Eine größere Sensibilisierung für die Notwendigkeit der frühzeitigen
Behandlung dieser Flüchtlingsgruppe soll dafür geweckt werden. Ein breites Bündnis von gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen soll schließlich Druck auf Bundes-, Länderund
Gemeindeebenen ausüben, um die notwendigen sozialen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit eine sachgerechte Rehabilitation und Integration sichergestellt wird.
Die einzelnen Schritte und Elemente dieser Kampagne:
Bisher wurde eine Unterschriftenliste entwickelt, die unter www.behandeln-statt-verwalten.de abgerufen werden kann. Dazu gibt es eine entsprechende online Petition.
Im Juni gab es eine Fachtagung mit etwa 50 Fachleuten aus verschiedenen Bereichen, die die realistischen Möglichkeiten der Umsetzung der einzelnen Ziele diskutiert haben. Die Ergebnisse sind auf der Homepage einzusehen und auch herunter zu laden.
Zur Zeit werden konkrete negative und positive Einzelbeispiele für die Umsetzung der seit 2003 existierenden EU –Aufnahmerichtlinie gesammelt. Diese können zur BAFF Paulsenstrasse 55-56 12163  holger.spoehr<at>baff-zentren.org , zur IPPNW, Körthestr. 10 10967 Berlin uhe<at>ippnw.de oder zu Refugio Villingen – Schwenningen Kalkofenstrasse 1 78050 VS –Villingen refugio.vs<at>tonline.de geschickt werden.
Im nächsten Jahr 2011 soll in einer weiteren Fachtagung mit allen an der Kampagne beteiligten Organisationen, Gruppen, Initiativen, Fachleute und interessierten Einzelpersonen ein Weg entwickelt werden, wie die Versorgung schutzbedürftiger Flüchtlinge durch
gesetzliche Rahmenbedingungen verbessert werden kann. Gleichzeitig soll diskutiert werden, wie sich das Gesundheitsversorgungssystem in seinen Strukturen so öffnen kann, dass eine qualifizierte flächendeckende Versorgung gesichert wird.
Weitere Fragen oder Anfragen für Referenten bei Veranstaltungen können über die BAFF Paulssenstrasse 55 -56 10967 Berlin oder IPPNW Körthestr. 10 10967 Berlin gestellt werden.