Semyon Gluzman wurde in der Sowjetunion wegen öffentlicher Kritik am Missbrauch der Psychiatrie für zehn Jahre inhaftiert. Heute ist er einer der bekanntesten Psychiater der Ukraine und streitet für eine patient*innenorientierte Versorgung. Seit Beginn des Krieges ist diese umso wichtiger geworden. Ein Gespräch über die psychischen Folgen des russischen Angriffskrieges, den Gulag und missglückte Reformen.
Interview: Gisela Krauss und René Papenfuß
Wie wirkt sich der russische Einmarsch auf die Versorgung psychisch kranker Menschen in der Ukraine aus?
Gluzman: Es gibt sehr viele Opfer dieses Krieges. Neben den getöteten und verwundeten Soldaten und Zivilpersonen gibt es auch viele traumatisierte Menschen. Allerdings wenden sich die Ukrainer*innen nur sehr selten an eine*n Psychiater*in oder Psycholog*in. In unserer postsowjetischen Kultur gibt es immer noch die weitverbreitete Haltung, sich einem Fremden gegenüber nicht zu öffnen.
Sie waren in der Sowjetunion inhaftiert, weil sie den Missbrauch der Psychiatrie angeprangert hatten. Wie sah dieser Missbrauch aus?
Psychiater haben psychisch gesunden Menschen psychiatrische Diagnosen ausgestellt. Am Serbski-Institut in Moskau gab es sogar eine spezielle politische Abteilung, Nummer 4, die direkt dem KGB diente. Bei Bedarf konnten sie dort sogar bei einem Frosch oder Hasen Schizophrenie diagnostizieren. Das Schicksal des bekannten Dissidenten Wladimir Bukowski war in dieser Hinsicht bezeichnend. Als er zum vierten Mal verhaftet wurde, teilte ihm der Leiter der politischen Abteilung des Serbski-Instituts, Professor Lunts, unverblümt mit: „Wir haben genug von Ihnen. Sie wollen offenbar immer noch keine Ruhe geben. Wir werden uns nie wieder sehen, denn sie werden bis an Ihr Lebensende Insasse eines psychiatrischen Gefängniskrankenhauses bleiben. Sie haben einen schweren Verlauf von Schizophrenie.“ Damals war der sowjetische Staatschef Breschnew zu einem offiziellen Besuch in Frankreich. Der französische Präsident bat Breschnew, die Strafe für Bukowski zu ändern. Daraufhin wurden der Direktor des Serbski-Instituts und die Leitung des KGB angewiesen, Bukowski als geistig gesund anzuerkennen. Professor Lunts traf sich erneut mit Bukowski und sagte ihm: „In dieser kurzen Zeit haben Sie sich erholt, Sie haben keine Geisteskrankheit mehr.“ Bukowski wurde dann in ein politisches Gefängnis und später in ein Lager gebracht.
Sie haben als politischer Gefangener Berichte über das Leben im Lager geschrieben und nach draußen geschmuggelt. Wie ist Ihnen das gelungen?
Mir wurde irgendwann klar, dass die schwerwiegendste Anklage gegen die UdSSR die nüchterne, kurz beschriebene Wahrheit über unseren Lageralltag sein würde. Mir wurde klar, dass dieses Genre wichtiger sein würde als unsere Appelle etwa an die internationale Gemeinschaft. Ich teilte die Idee meinem Lagerfreund und Lehrer Ivan Svitlychny mit, und er stimmte mit Begeisterung zu. Zu dieser Zeit arbeitete ich an einer Nähmaschine und konnte so schmale Papierstreifen mit Text zu Halbfabrikaten zusammennähen. So entstand eine Serie von Nachrichten mit dem Titel „Die Chronik des Archipels Gulag geht weiter. Chronik der Zone #35“. Es war sehr schwierig, unsere Publikationen zu schreiben, zu verstecken und dann in die Freiheit zu bringen. Das war Teamleistung.
Einmal sagte der KGB-Oberst Rozanov zu mir: „Sie sind der Meister, was die Anzahl der Veröffentlichungen unter allen sowjetischen politischen Gefangenen angeht!“ Er wollte mich mit möglichen Vergeltungsmaßnahmen einschüchtern, erreichte aber das Gegenteil. Ich war stolz auf diese Anerkennung durch den Feind. Ein anderer KGB-Oberst namens Istomin fragte mich während der sogenannten Prophylaxe, einer Einschüchterungsmaßnahme: „Wie übermitteln Sie Informationen aus der Zone?“ Ich antwortete: „Wir schreiben den zu übermittelnden Text auf ein leeres Blatt Papier. Und zu einer bestimmten Zeit, wenn ein amerikanischer Satellit über uns fliegt, halten wir das Blatt aus der Kaserne und geben dem amerikanischen Satelliten die Möglichkeit, den Text zu erfassen.“ Der Oberst lachte lange und sagte dann: „Ich weiß Ihren Witz zu schätzen!“ Tatsächlich war es profaner: Wenn eine Mutter oder Ehefrau zu Besuch kam, steckte sie sich die Informationen in Anus oder Vagina – obwohl es obligatorische gynäkologische Untersuchungen gab. Es ist traurig und gruselig, sich daran zu erinnern.
Amnesty International hat sie 1977 als gewaltlosen politischen Gefangenen anerkannt. Die damalige Kogruppe Ärzte und Psychologen bemühte sich sehr um Ihre Freilassung. Haben Sie von den Aktionen erfahren?
Wir wussten in den politischen Lagern so gut wie nichts über die Existenz und die Aktivitäten von Amnesty International. Wir waren streng isoliert. Ich habe erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR erfahren, dass ich 1978 zum politischen Gefangenen des Jahres ernannt wurde. Nur wenige Leute wussten von unseren Schriften und deren Weitergabe. Das ist das Wesen der Konspiration: Wir konnten kein Risiko eingehen. Jemand aus deinem engen Umfeld konnte ein Schwätzer oder Agent sein. Es gingen also mehr Informationen nach außen als nach innen. In meinem Buch „Furcht und Freiheit“, das vor drei Jahren ins Deutsche übersetzt wurde, habe ich darüber berichtet.
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 konnten Sie reisen und frei als Wissenschaftler und Psychiater arbeiten. Wie haben Sie diese Zeit damals erlebt?
Auch vor 1991 fühlte ich mich bereits frei. Ich schrieb, und zwar nicht nur über Themen der Psychiatrie. Ich habe einen langen Artikel über ein rein juristisches Thema veröffentlicht, in dem ich das Phänomen des Passwesens in der UdSSR und die sogenannte Propiska (Aufenthaltsregistrierung) analysierte. Ich habe meine Artikel häufig in Moskauer Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht und an der Vorbereitung und Umsetzung mehrerer Dokumentarfilme mitgewirkt.
1994 habe ich dann mit Unterstützung europäischer Geldgeber in Kiew das Zentrum für die medizinische und soziale Rehabilitation von Opfern des Krieges und totalitärer Regime eröffnet. Ein Zentrum für ehemalige Gefangene, von Opfern des Holocaust über Gulag-Häftlinge bis hin zu heutigen Flüchtlingen. Viele dieser Menschen sind inzwischen alt und krank, sie erhalten diese wertvolle Hilfe bis heute umsonst. Der ukrainische Staat hat uns mit keinem einzigen Cent unterstützt. Damals wie heute ist die gesamte medizinische Versorgung in der Ukraine nicht besonders gut. Wir haben in unserem Zentrum etwa 60 Videointerviews mit Opfern von Repressionen gedreht und haben diese einzigartigen Interviews mehr als einmal dem ukrainischen Fernsehen angeboten. Doch leider war dort niemand interessiert. Meiner Ansicht nach ist die Zeit in der Ukraine nach 1991 weitgehend verschenkt. Das ist traurig.
Wird die Psychiatrie in der Ukraine heute noch missbräuchlich eingesetzt?
Der Missbrauch für politische Zwecke ist in der Ukraine verschwunden, denn der Hauptabnehmer ist verschwunden – der KGB. Aber von Zeit zu Zeit gibt es noch Missbrauch zu kommerziellen Zwecken. Dabei wird eine geistig gesunde Person mithilfe eines Psychiaters und eines Anwalts als krank diagnostiziert, um ihr Eigentum beschlagnahmen zu können. Solche Maßnahmen wurden sogar von Angehörigen der Opfer in Auftrag gegeben. Das kann auch heute noch passieren. Es gibt diesbezüglich ein hohes Maß an straffreier Korruption.
Sie forderten 2006 eine radikale Reform und Beseitigung von Missständen in der psychiatrischen Versorgung in der Ukraine, wie etwa die mangelnde Wahrung von Patient*innenrechten. Wie entwickelte sich die Situation daraufhin?
Es ist traurig, sagen zu müssen, dass die Präsidentschaft von Petro Poroschenko vielleicht eine der schwierigsten Perioden für die Psychiatrie in der Ukraine war. Auf Empfehlung der damaligen Gesundheitsministerin Uljana Suprun wurde ein fatales Reformprogramm auf den Weg gebracht. Selbst unter den Sowjets starben psychisch kranke Menschen nicht an Hunger und Kälte in Parks und auf der Straße. Ich habe viel darüber geschrieben und gesprochen, an Barmherzigkeit und Menschlichkeit appelliert. Zwar wurde Suprun als Ministerin abgesetzt, aber ihr Reformprogramm hatte bereits vieles, was wir mit Unterstützung westlicher Kollegen geschaffen hatten, zerstört. Ich habe mich wiederholt an verschiedene internationale Organisationen gewandt und um Hilfe gebeten, aber die meisten weigerten sich, sich in die ukrainische Politik einzumischen. Hunderte von psychisch kranken Menschen starben auf der Straße vor Hunger! Wie kann man angesichts dessen von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und humaner Medizin sprechen.
Was erhoffen Sie sich für die Entwicklung der Psychiatrie in der Ukraine nach dem Ende des Krieges? In welchem Maße können andere Länder und Organisationen beim Wiederaufbau helfen?
Ich bin sicher, dass sich die Situation in der ukrainischen Psychiatrie nach dem Krieg nicht verbessern wird. Sowohl die Regierung als auch der Gesetzgeber werden erst an letzter Stelle über psychisch kranke Menschen nachdenken. Dazu kenne ich mein Land zu gut. Ich bedauere zutiefst, dass ich meine jungen Jahre dem Kampf für die Humanisierung des psychiatrischen Systems in der totalitären UdSSR gewidmet habe. Denn heute, am Ende meines Lebens, befinde ich mich erneut in diesem Kampf – und das in einem unabhängigen demokratischen Staat. Andere Organisationen, auch Amnesty International, können uns leider kaum unterstützen. Sie werden uns nicht helfen können etwas durchzusetzen, was der ukrainische Staat nicht tun will. Und weder wir, die Psychiater, noch die Angehörigen unserer Patienten haben eine Lobby beim ukrainischen Gesetzgeber und der Regierung.
Amnesty kann die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem lenken und die Verantwortlichen auffordern, etwas zu ändern. Warum halten Sie das für aussichtslos?
Zum einen, weil hier ein Krieg herrscht. Aber auch, weil ich seit mehr als 30 Jahren mein Bestes tue, um gehört zu werden: Ich schreibe, ich weine, ich telefoniere. Vergeblich. Dennoch werde ich weitermachen, solange ich die Kraft dazu habe, solange ich am Leben bin. Und ich würde es sehr schätzen, wenn Amnesty International mich dabei unterstützt.
Die Autor*innen sind Mitglieder des Aktionsnetzwerks Heilberufe Amnesty International Deutschland, das sich in den 1970er Jahren intensiv um die Freilassung Semyon Gluzmans bemüht hat. Nach mehr als 40 Jahren hat die Gruppe nun erneut Kontakt mit dem inzwischen 76-Jährigen aufgenommen.
Semyon Gluzman ist einer der bekanntesten Psychiater der Ukraine. Er wurde im Mai 1972 in Kiew verhaftet und wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu sieben Jahren Arbeitslager und drei Jahren sibirischer Verbannung verurteilt. Er hatte einem prominenten Dissidenten in einem „gerichtspsychiatrischen Gutachten“ völlige geistige Gesundheit bescheinigt. Im Jahr 1977 wurde er von Amnesty International als gewaltloser politischer Gefangener anerkannt. Gluzman schlug wiederholt Angebote des KGB aus, den „reformatorischen Weg“ einzuschlagen, und musste daher seine gesamte Haftstrafe verbüßen. 1982 kehrte er nach Kiew zurück. Während seiner Haftzeit schrieben er und seine Mitgefangenen zahlreiche Berichte über das Leben in den Lagern, die herausgeschmuggelt und auch im Westen bekannt wurden. Gluzman machte den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion weltweit bekannt.
Hier geht es zum Originaltext im Amnesty-Internaional Journal.
Buchempfehlung: Semyon Gluzman: Furcht und Freiheit. Vom Überleben eines ukrainischen Psychiaters im Gulag. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2020, 242 Seiten, 36,65 Euro, Hier können Sie das Buch erwerben.