Ein ukrainischer Psychiater, der von AI adoptiert wurde, erinnert sich an seine Erfahrungen im Gulag

Vor einigen Monaten entdeckte ich ein Buch, auf das ich Euch aufmerksam machen möchte und damit auf den Autor, den ukrainischen Arzt und Psychiater Dr. Semyon Gluzman. Er wurde 1977 als politischer Gefangene als Fall von AI London anerkannt und von unserem 1979 gegründeten AI Arbeitskreis Ärzte – Psychologen, zu dem ich gehörte, betreut.

Das Buch heißt “Angst und Freiheit, vom Überleben eines ukrainischen Psychiaters im Gulag“ und erschien 2020 im Mabuseverlag.

Heute, da die Menschenrechtsorganisation Memorial, unter anderem von Andrej Sacharow gegründet, in Moskau verboten wurde und viele seiner Mitglieder verhaftet wurden, scheint es mir besonders wichtig, an diese Dissidenten von damals, ihre Aufklärungsarbeit, ihr Schicksal, ihre unbeugsame Haltung, ihren Mut und vieles andere zu erinnern und evtl. Bezüge zur gegenwärtigen Situation  zu ziehen.

Semyon Gluzman wurde 1946 in Kiew geboren, studierte Medizin und wurde Psychiater. 1971 wurde ihm eine Stelle an der  berüchtigten psychiatrischen Sonderanstalt in Dnejpropetrowsk angeboten, welche er ablehnte, da er wusste, dass dort gesunde Menschen aufgrund ihrer politischen Ansichten „behandelt“ wurden.

Im Mai 1972 wurde Dr. Gluzman in Kiew verhaftet und wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zur Höchststrafe von 7 Jahren Besserungsarbeitskolonie und 3 Jahren Verbannung verurteilt. Im Prozess wurde ihm vorgeworfen, die Nobelpreisrede von Albert Camus, einen Artikel von Heinrich Böll aus der Zeitschrift „Reporter“, den „offenen Brief an den Schriftstellerverband der UDSSR“ von Arkady Belinkov in seinem Besitz gehabt zu haben.

Der eigentliche Grund aber war vermutlich, dass er einen „Gerichts-psychiatrischen Bericht in absentia im Fall von Petro Grigorenko“ geschrieben hatte. Grigorenko (1921–1987) war ukrainischer Kommandant in der sowjetischen Armee, kritisierte aber schon früh die politische Führung der SU und war Mitbegründer der Menschenrechtsbewegung. Er kam von 1969 bis 1974 in die Psychiatrie und sollte als „geisteskrank“/schizophren erklärt werden.

Gluzman sollte 1971 dazu ein Gutachten schreiben, attestierte Grigorenko allerdings in diesem Gutachten völlige geistige Gesundheit.

Ab 1972 verbüßte S. Gluzman seine Strafe im Lager bei Perm. 1974 kam auch Vladimir Bukowski in dieses Lager und mit diesem zusammen schrieb er 1975 das „Handbuch der Psychiatrie für Dissidenten“, in dem Ratschläge für Dissidenten im Umgang mit Psychiatern gegeben wurden.

Diese Schrift und viele anderen Berichte über seine Lage, über die Verhöre, die Umstände im Lager, die Arbeitsbedingungen, Hungerstreiks, das Schicksal und die Beschreibung einzelner Mitgefangener wie des Dichters Vasyl Stus, des Dissidenten Valery Marchenko und anderer, sein Nachdenken über Angst und Freiheit, wurden aus dem Lager geschmuggelt, natürlich unter höchster Bedrohung, und gelangten über Samisdat und Tamisdat in den Westen.

Es hat mich sehr berührt und auch aufgewühlt, im oben erwähnten Buch nun Artikel, Briefe, Appelle, Gerichtsurteile, Gedichte etc. abgedruckt zu lesen, die ich während der Betreuung des „Falles Gluzman“ in x-mal kopierter Form, manchmal kaum mehr lesbar, bekommen hatte und bis heute aufbewahre. Ich habe mich damals oft gefragt, wie denn diese ganzen Berichte überhaupt den Weg aus dem Lager und dann in die Welt geschafft haben – nun, jetzt im Buch wird dies beschrieben…und der letzte Artikel darin ist ein Dank an die „mutigen Frauen“, die bei Besuchen die kostbare Fracht übernahmen und für ihre Verbreitung sorgten.

Diese Berichte waren die Voraussetzung dafür, dass der Westen über den Missbrauch der Psychiatrie in der SU überhaupt erst erfuhr – leider wurde dies, wie Hartmut Berger im Vorwort des Buches beschreibt, gerade von den Vertretern der Reformpsychiatrie in Deutschland erst einmal weitgehend ignoriert.

Diese Haltung habe ich, als junge Psychiaterin, bei meinen Aktionen für Semyon Gluzman, leider auch öfters erlebt. Viele konnten und wollten sich diesen Missbrauch der Psychiatrie in der SU einfach nicht vorstellen.

Aber es gab doch zunehmend Aufrufe in der internationalen Gemeinschaft der Psychiatrie, die sich für Kenntnisnahme, Aufklärung und Unterstützung der Inhaftierten einsetzten.

1982 wurde S. Gluzman nach Kiew entlassen und hat seine Arbeit als Wissenschaftler, als Psychiater, als Aufklärer, Zeitzeuge auf vielfältige und bewunderungswerte Weise fortgesetzt. Er bekam viele Ehrungen weltweit und lebt heute, soweit ich erfahren konnte, in Kiew.

 – Dr. med. Gisela Krauß, Heidelberg