Sehr geehrte Damen und Herren,
hier können Sie den “Bericht vom öffentlichen Teil der Herbsttagung des ai-Aktionsnetzes der Heilberufe am 29.10.2005 in
München”:
AI_Protokoll_Herbsttagung_2005
Das Aktionsnetz der Heilberufe von Amnesty International besteht seit 25 Jahren. Schwerpunkt in diesem Jahr ist die Situation der Menschenrechte in der Türkei. Hintergrund für dieses gewählte Schwerpunktsthema ist zum einen die aktuelle Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei, der besonders auch in Deutschland in der politischen Diskussion sehr konträr diskutiert wird; zum anderen werden immer noch viele Flüchtlinge, vor allem kurdische aus dem Südosten der Türkei, von Heilberuflern als traumatisierte Menschen und Folterüberlebende beraten, begleitet, behandelt und mit ihnen für die Anerkennung eines Schutzstatus gekämpft.
Schon längere Zeit bestehen intensive Kontakte zu den entsprechenden Behandlungszentren und Menschenrechtsaktivisten unter den Heilberuflern in der Türkei.
Im Frühjahr haben wir Kollegen aus den Behandlungszentren zu Gast gehabt und ihnen Gelegenheit gegeben, die menschenrechtliche Situation in der Türkei aus ihrer Sicht darzulegen. Dabei wurden dunkle und helle Streifen am politischen Horizont sehr plastisch dargelegt (siehe Bericht von der Frühjahrstagung in Berlin).
Zur Herbsttagung haben wir den Rechtsexperten für Völkerrecht Prof. Dr. Norman Paech zum Thema: „Die Türkei auf dem Weg nach Europa? Menschenrechte und die Kurdenfrage“ eingeladen.
Herr Paech reiste seit 1993 viele Male in die Türkei und hat aus völkerrechtlicher Sicht Gutachten und Stellungnahmen zur Kurdenfrage veröffentlicht.
In seinem inhaltsreichen und eloquent gehaltenen Vortrag ging er auf zwei Themenkomplexe ein:
1. Er nahm zu den von konservativer Seite immer wieder ins Feld geführte Argumentationen gegen einen EU-Beitritt der Türkei Stellung.
2. Er unterstrich seine These, dass die Lösung der Menschenrechtsfrage in der Türkei von der Lösung der Kurdenfrage abhängig sei.
Die Argumente:
A) Die EU wird mit dem Beitritt der Türkei völlig überfordert sein. Die Türkei sei ein armes Agrarland, das nur 20% des durchschnittlichen BSP erwirtschaftet.
Man weist auf 20-40 Milliarden Euro als Subventionen hin, wovon die BRD 1/5 aufzubringen hätte. Bei einer Inflationsrate von derzeit 40% würde es zum Zerfall der wirtschaftlichen Finanzkraft der EU kommen.
B) Mit vorrausichtlich 82 Millionen Menschen in 15 Jahren wird die Türkei das bevölkerungsstärkste Mitglied in der EU sein. Damit verschieben sich die Sitzverteilungen in den politischen Gremien und damit die politischen Einflüsse.
Außerdem werden Szenarien von 10-18 Millionen verarmter Anatolier gezeichnet, die nach Europa, vornehmlich nach Deutschland strömen würden.
Diesen Ansturm sei bedrohlich und könnte nicht bewältigt werden.
C) Der NATO-Mitgliedschaftsstatus, hauptsächlich als Vorposten gegen die Sowjetunion und später zur Kontrolle der islamischen Nachfolgestaaten des verfallenden Sowjet-Reiches und der Länder des Mittleren Ostens gedacht, hat eine fragwürdige Schattenseite: An den Grenzen von Europa stoßen gefährliche Konfliktherde und zerfallende Staaten wie Iran, Irak, Syrien, Libanon und der gefährliche und alles überschattende Palästina-Konflikt. Aus der ursprünglich geostrategisch günstigen Position der Türkei als Brückenfunktion zu den islamischen Staaten dürfe kein Brückenkopf dieser uns kulturell fremden und fernstehenden Gesellschaften werden.
D) Die Türkei sei eine formale Demokratie mit dahinter stehender Militärherrschaft. Die Übernahme der demokratischen Rechte und Gesetze seien in der Gesellschaft nicht verankert. Die Demokratie sei in der Gesellschaft unbelebt und tot.
E) Die Türkei hege wie das osmanische Reich geschichtlich eine dogmatisch verfestigte Feindschaft zum christlichen Abendland und christlicher Werte. Insbesondere von konservativer Historikerwarte (Winkler, Wehler, Böckenförde) wird der Türkei bestritten, historisch wie kulturell zu Europa zu gehören. Es fehle „eine innerislamische Aufklärung oder Reformation.“ Sowie eine „durch nichts ersetzbare gemeinsame historische Prägung und Erfahrung.“ Dabei werde, so Herr Paech, übersehen, dass das osmanische Reich der Inbegriff der Koexistenz der großen Weltreligionen war, in dem Juden, Moslems und Christen über Jahrhunderte friedlich koexistiert und zusammengelebt hätten.
Er warf den Historikern ein ideologisch verbogenes romantisches Geschichtsbild vor, in dessen Zwangsjacke sie das Europa des 21. Jahrhunderts stecken wollten. Die dunklen Seiten der europäischen Vergangenheit blieben konsequent unerwähnt. Die meisten „Argumente“ kultureller Unvereinbarkeit seien „verquaste nationalstaatliche Reminiszenzen aus dem 19. Jahrhundert“. Er kenne keinen Staat des Nahen und Mittleren Ostens, der mehr Bemühungen auf sich genommen habe, sich in den Westen integrieren zu wollen. Viele Gesetze und Regeln seien aus dem europäischen Recht übernommen worden. Er erinnerte daran, dass schon im Mittelalter das osmanische Reich Juden, die auf der iberischen Halbinsel verfolgt worden seien, aufgenommen und neu angesiedelt worden seien. Viele deutsche Wissenschaftler hätten, als sie vom nationalsozialistischen Regime bedroht worden seien, in den 30iger Jahren in der Türkei Asyl bekommen. Herr Paech erinnerte an die großen Vorleistungen, die die Türkei gegenüber dem Westen bisher schon geleistet habe. Vergessen werde auch vollkommen, dass mit Spanien und Portugal zwei Länder erfolgreich ein Europa integriert worden seien, die seinerzeit nicht nur weit hinter dem europäischen ökonomischen Entwicklungsniveau gestanden hätten, sondern auch kurz zuvor noch Militärdiktaturen gewesen seien. In 15 Jahren Beitrittsverhandlungen könnte die Türkei enorme ökonomische Fortschritte machen, die den jetzt noch bestehenden Unterschied zum westlichen Europa überbrücken könnten.
Allerdings müsse aus menschenrechtlicher Sicht in den nächsten 15 Jahren der Annnäherung an Europa folgendes in der Türkei und in Europa gelöst werden. Hier liege das größte und schwierigste Problem: 1. Die Minderheitenfrage. Die Türkei weise 26 Ethnien und Sprachen auf. Die Angst vor dem Zerfall wie damals zum Ende des Osmanischen Reiches sitze als historische Last tief und müsse überwunden werden. Das könne nur im Rahmen einer Integration nach Europa geschehen. Das größte Problem seien dabei die etwa 15 Millionen Kurden, deren Identität und Selbstbestimmungsrecht nach wie vor nicht akzeptiert werde. Zwar habe sich formal die Türkei zum kurdischen Kultur- und Sprachgebrauch gesetzlich bekannt, allerdings in der praktischen Umsetzung so hohe Hürden in der Anwendung gesetzt, dass es praktisch zu keinen nennenswerten Verbesserungen für die Bevölk erung geführt hat. Europa müsse aber dafür sich für die Minderheitenfrage selbst öffnen; es müsse offensiver diese Fragen in die Verhandlungen mit einbringen. Allerdings hat die europäische Gemeinschaft selbst bisher den einzelnen Nationalstaaten dieses Thema überlassen. Hier könne ein gemeinsamer Weg der gegenseitigen Beeinflussung gegangen werden. Die Zivilgesellschaft Europas müsse dieses Thema stärker in die Diskussion einbringen und Druck auf die Verhandlung machen. Über nationale Parlamente und vor allem über das europäische Parlament müsse diese Frage politisch thematisiert werden.
2. Die Macht der Militärs müsse gebrochen werden. Der militärisch-industriellepolitische Komplex , eine weit in die Gesellschaft verankerte Herrschaftsstruktur, die jedes Problem in der Türkei militärisch lösen möchte, würde allerdings vom Westen im Rahmen der NATO selbst aufrecht erhalten. Hier seien Chancen für die zivilgesellschaftlichen Kräfte in allen Ländern Europas, die sich gegen die zunehmende Militarisierung wenden. Die Gewalt in der Türkei sei kein „genetischer verankerter Schaden für Menschenrechtsverletzungen in der dortigen Gesellschaft“, sondern würde wegen der Funktionalisierung der Militärs als Vorposten gegen islamische Kräfte durch den Westen geschürt. Die bisher an der Oberfläche nur veränderten Gesetze im Sinne der Anpassung an Europa sei ein gemeinsamer Kampf der Zivilgesellschaften um Menschenrechte und demokratische Reformen. In diesem Zusammenhang wies Herr Paech auf die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen jenseits des etablierten Parteienspektrums hin (Selbsthilfegruppen, Frauengruppen, Menschenrechtsgruppen, Minderheitenorganisationen), die gerade in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind. In diesem Punkt war Herr Paech sehr optimistisch, dass es durch sie zur Angleichung von europäischen Standards kommen werde. Als Beispiel nannte er das von den Militärs und den nationalistischen Kräften erhobene Verbot und Verurteilung einer Gewerkschaft wegen des Gebrauchs der Muttersprache, das von Gerichten in Hinblick auf die europäischen Standards wieder aufgehoben wurde. Hier täte sich Erstaunliches. Es wäre ein Versäumnis, diese Kräfte nicht zu beachten und zu fördern. Diese Kräfte könnten nur in der Integration in die europäische Gesellschaft gestärkt und damit die Vorstellung, durch Krieg Demokratie durchzusetzen, zurückgedrängt werden. Leider habe es allerdings in letzter Zeit wieder einen Rückfall in alte Zeiten der Menschenrechtsverletzungen gegeben, über die man nicht hinwegsehen dürfe.
3. Die Folter in der Türkei richte sich zu 90% gegen die kurdische Identität. Deshalb sei deren Abschaffung eng mit der Lösung der kurdischen Frage und der Erhaltung der kurdischen Identität verbunden. In diesem Zusammenhang kritisierte Paech die europäischen Regierungen, vor allem auch die deutsche Regierung, die aus Rücksicht auf die türkische Regierung die kurdische Frage bisher negiert habe, sogar aktiv sie hier unterdrücken würde. (PKK –Verbot, PKK als terroristische Vereinigung, Verbot der kurdischen Zeitung auf Druck der türkischen Regierung) Herr Paech wies am Ende darauf hin, dass alle Menschenrechtsorganisationen in der Türkei trotz ihrer bisherigen Enttäuschungen über den bisherigen Verlauf der Verhandlungen vehemente Verfechter für die Integration der Türkei in die EU sind. Nur so würde man auf die Dauer die von den türkischen Militärs gewaltsam durchgesetzte Trennung von Religion und Politik aufrechterhalten und gleichzeitig das Militär, und damit Krieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zurückdrängen können. Herr Paech wies darauf hin, dass die Türkei als vornehmlich islamisches Land bisher gegen AL Kaida –Terroristen immun sei. Um das weiterhin zu bewahren, sei der Weg der Türkei nach Europa unumgänglich.
Die neuen und alten Atavismen wie z.B. die Ehrenmorde würden nur Übergangsphänomene zur Moderne sein und könnten am besten durch Bekämpfung der Armut, der Überwindung der Ausgrenzung, der Integration und Öffnung und mit einem modernen Strafrecht zurückgedrängt werden. In diesem Zusammenhang wurde auf die in den letzten Jahren stark anschwellende Frauenbewegung in der Türkei hingewiesen, die diese Fragen längst angegangen hätten.
In einer kontroversen Diskussion verteidigte Herr Paech aus völkerrechtlicher Sicht (von internationalen Konventionen gedeckt) den bewaffneten Kampf der PKK als Notwehrgewalt, nachdem zuvor auf friedlichem Wege die aggressive Assimilierungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden, einhergehend mit einer enormen Repression, nicht gestoppt werden konnte. Er wies allerdings gleichzeitig darauf hin, dass er schon früh Herrn Özcalan zu überzeugen versuchte, dass dieser bewaffnete Kampf militärisch sinnlos und politisch aufzugeben sei, wie es dann auch 1999 vollzogen worden sei. Anschließend berichtete Frau Dr. med. Gisela Penteker, Türkeibeauftragte der IPPNW, über die gesundheitliche Versorgung.
Sie wies darauf hin, dass die Türkei früher ein auch für Europa modernes Gesundheitswesen mit einer starken Orientierung auf Basisversorgung und Prävention hatte. Dieses System mit vier Versorgungsebenen: Gesundheitsposten, Ambulatorien, Krankenhäuser, universitäre Einrichtungen habe mehr oder weniger gut funktioniert. Heute sei die Basisversorgung allerdings ganz weggebrochen, die Gesundheitsposten, vor allem auf dem Land und im Südosten der Türkei seien verwaist, in den Ambulatorien und auch Krankenhäusern fehlten die Ärzte. Von den früheren Gesundheitspräventionsprogrammen, die kostenlos für jeden gewesen seien, würde nur noch das Tuberkuloseprogramm existieren. Vor allem das Wegbrechen der Mutter –Kind Einrichtungen habe die Säuglingssterblichkeit in die Höhe schnellen lassen, im Südosten der Türkei so hoch wie in Bangladesch. Ursache sei der Krieg und die vom IWF aufgezwungenen Strukturanpassungsprogramme, die wirtschaftsliberalistische Strukturen auch im Gesundheitswesen forderten. So gäbe es durchaus im Westen eine hochmoderne, mit europäischen Standards zu messende Universitätsmedizin, während vor Ort, vor allem in den armen Vierteln der Städte imWesten, den Randgebieten aller großen Städte und auf dem Lande im Südosten es an Ärzten, Einrichtungen, Medikamenten, ja an allem fehlen würde. In Diyabarkir, wo sich in den letzten 20 Jahren die Bevölkerung vervierfacht hätte, seien die Gesundheitsposten und ambulanten Gesundheitseinrichtungen von 300 auf 30 geschrumpft. Theoretisch seien alle Medikamente vorhanden, nur seien sie für die Masse der Leute nicht bezahlbar.
Das gilt vor allem für zurückgekehrte Flüchtlinge und Vertriebene, deren Familienstrukturen und sozialen Netze auseinandergebrochen seien. Selbst Versicherte müssten, um im Krankenhaus operiert zu werden, das sogenannte Eintrittsgeld, das „Messergeld“ bezahlen. Zunehmend würden Ärzte in privaten Praxen arbeiten, sie seien dazu mehr und mehr sogar
gezwungen und fehlten deshalb in den stationären Einrichtungen. z.B. nachmittags würde man kaum noch Ärzte in den Ambulatorien oder Krankenhäusern antreffen, selbst in solchen Einrichtungen, die Versicherten zugänglich seien. Die Mittel für das Gesundheitswesen würden zentral von Ankara verteilt und unterlägen einer parteilichen Begünstigung. Für normale oder mittellose Personen sei diese Gesundheitsversorgung nicht erreichbar. Die Yesilkarte, früher gedacht als Versorgungskarte für Arme, Bedürftige und Mittellose, sei keine Versicherung mehr und sei angesichts des großen Heeres bedürftiger Menschen auch nutzlos geworden.
Für rückkehrende Flüchtlinge sei sie in der Regel nicht zu haben. Denn 1. müsse man polizeilich gemeldet werden und die meisten würden sich aus Angst nicht registrieren lassen, zum anderen besäßen viele Kurden aus dem Südosten, obwohl sie nicht in ihre Dörfer zurückkehren können, formell und auf dem Papier Häuser und Äcker und damit Besitz, was zum Ausschluss einer Yesilkarte führen würde. In der Regel hätte diese Gruppe keinen Rechtsanspruch. Die Gesundheitsreform im nächsten Jahr sähe zwar vor, dass Privatpersonen, die Geld verdienen würden, ins Gesundheitswesen einzahlen müssten und damit auch die finanzieren sollen, die mittellos und nicht bezahlen könnten. jeder solle schließlich behandelt werden. Experten sind aber sehr skeptisch, weil viel zu wenig Geld in diesem System hineingesteckt würde und deshalb ein privatorganisiertes Gesundheitswesen nicht funktionieren kann.
Zwar gibt es an allen größeren Häusern Psychiatrien, diese seien in ihrer Therapie aber rein medikamentös ausgerichtet. Psychotherapien gibt es nur in den großen Städten und nur auf privater Basis. Lediglich die Behandlungszentren bieten Therapie ohne Bezahlung an, sind aber hoffnungslos überlastet. Außerdem können sie die erforderliche Sicherheit ihrer Patienten nicht garantieren, was ja Vorraussetzung für die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse nötig wäre. Manche Behandler in diesen Zentren sind selbst von Repression, Anklagen und Gefängnisstrafen bedroht. In ihren Berichten habe sie immer wieder auf die fehlende Möglichkeiten von Therapie bei trauumatisierten Flüchtlingen und Folteropfer hingewiesen, die Berichte des Auswärtigen Amtes seien einfach in diesem Punkt falsch. Frau Dr. med. Wirtgen wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Kollegen im Frühjahr bei ihren Besuchen in Behörden und Ministerien auf diesen Mangel hingewiesen hätten, bisher dieses aber nicht in den Berichten umgesetzt worden sei.
Insgesamt war dieser Nachmittag für Experten und Nicht Experten in Sachen Türkei ein großer Gewinn und Anlass zum Nachdenken.
Die Türkei wird uns auch über das Jubiläumsjahr hinaus weiter beschäftigen, insbesondere in der finanziellen Unterstützung der Arbeit der Behandlungszentren und einer Prozessbeobachtung, wofür wir auch weiterhin Spenden sammeln. (siehe Spendenaufruf, Artikel im Dossier)