Hier steht ein kurzer Bericht einer Privatperson über die Prozeßbeobachtung im Strafprozess gegen Prof. Sebnem Korur Fincanci, Eröl Önderoglu und Ahmet Nesin am 11.1.2017 in Istanbul. Der folgende Prozessbericht stammt nicht von Amnesty International.
Prof. Sebnem Korur Fincanci ist Gerichtsmedizinerin und Vorsitzende der international bekannten türkischen Menschenrechtsstiftung. Sie war in den 90iger Jahren mit führend an der Formulierung des Istanbul-Protokolls zur Untersuchung von Folterspuren. Das Istanbul-Protokoll ist mittlerweile ein offizielles UN-Dokument.
Diese mutige Frau, die sich national wie international durch wissenschaftliche Expertise, Mut und Beharrlichkeit einen großen Namen gemacht hat, hatte sich zusammen mit dem Journalisten Erol Önderoglu und Ahmet Nesin in einer Solidaritätsaktion für die pro kurdische Zeitung Özgür Gündem im Mai 2016 eingesetzt. Alle drei sind nun „wegen Propaganda für eine terroristische Organisation“ angeklagt. Ihnen droht 10 und mehr Jahre Haft. Die Zeitung ist mittlerweile verboten.
Der erste Prozesstermin im November fand in Anwesenheit einer größeren internationalen Beobachtergruppe statt. Auch jetzt waren wieder mehrere Vertreter von Menschenrechtsorganisationen aus Israel, Dänemark, Schweden sowie aus Deutschland angereist. Da zur gleichen Zeit der Prozess gegen Can Dündar, Erdem Gül und Enis Berberoglu von der Zeitung Cumhuriyet stattfand, waren auch viele Vertreter von Reporter ohne Grenzen aus verschiedensten Ländern anwesend. Mehr als 70 Beobachter und Sympathisanten mit den angeklagten drängelten sich in dem viel zu kleinen Gerichtssaal, der nur für 30 Leute ausgelegt war.
Nach 5 Minuten wurde der Prozess erneut unterbrochen und auf den 21. März verlegt. Offizielle Begründung war, dass einer der Angeklagten zur Zeit im Ausland sei und nicht anwesend sei. Der Hintergrund ist wohl doch die größere internationale Aufmerksamkeit und juristisch äußerst wackelige Anklage, die dieses Gerichtverfahren begleitet.
In der zur Zeit politisch äußerst angespannten Situation ist die türkische Menschenrechtsstiftung den politisch Verantwortlichen ein Dorn im Auge. Allein die Berichte der türkischen Menschenrechtsstiftung zu den Menschenrechtsverletzungen in Cizre, die auf den sorgfältigen gerichtsmedizinischen Untersuchungen von Prof. Sebnem Korur Fincanci beruhen, haben Eingang in Berichte von UN-Menschenrechtsorganisationen, Physicians for Human Rights und im Memorandum der EU -Menschenrechtskommission gefunden und stellen den türkischen Sicherheitskräften und Militärs ein sehr schlechtes Zeugnis aus. Es wurde anschließend darauf hin, dass mittlerweile zahlreiche Menschenrechtsorganisationen in der Türkei in Gefahr sind, geschlossen zu werden wie es schon mit vielen NGOs geschehen sei. Es wird vermutet, dass auch gegen die Menschenrechtsstiftung ein Vorgehen vorbereitet wird.
Sehr dringend wird noch auf das Schicksal des Mitarbeiters der türkischen Menschenrechtsstiftung in Cizre hingewiesen. Dr. Serdar Küni ist im Oktober inhaftiert und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Eine Anklage ist bisher nicht erhoben worden. Regierungsnahe Zeitungen warfen diesem Arzt vor, Terroristen behandelt zu haben. Wahrscheinlich wird nun das Recht auf ärztliche Behandlung und die Pflicht eines Arztes, alle Menschen ungeachtet ihrer Religion oder ihrer Funktion zu behandeln demnächst vor Gericht stehen. Dafür lädt die Menschenrechtsstiftung um den ersten Gerichtstermin, der wahrscheinlich für März oder April in Shirnak angesetzt wird, zu einem Symposium mit internationaler Beteiligung nach Diyarbakir ein. Von dort soll auch, wenn möglich, der erste Prozesstag dann beobachtet werden.
Im Rahmen der traditionellen Delegationsreise der IPPNW im März wollen wir versuchen Cizre und Shirnak zu besuchen und eventuell einen Stoß Solidaritätsbriefe übergeben. Ich werde einen Text vorbereiten, der dann von möglichst vielen, auch in abgeänderter Form übernommen und mir zugeschickt wird. Ein Besuch im Gefängnis, den wir beantragen werden, wird wahrscheinlich abgelehnt. Auf jeden Fall sollten wir hier in Europa eine Solidaritätskampagne entfachen und vor allem klar machen, dass eine juristische Verfolgung von Dr. Serdar Küni ein genereller Angriff auf die Rechte und Pflichten von Heilberuflern und damit dem Selbstverständnis der gesamten internationalen Ärzteschaft bedeutet.
Die Menschenrechtsstiftung bittet um weitere internationale Unterstützung in ihrem Kampf um Menschenrechte („Für uns sind Menschenrechte wie Luft zum Leben“ Prof. Dr. Sebnen Korur Fincanci). Sie bedeutet ihnen viel Ermutigung zum Durchhalten und ein Gegenmittel gegen die Resignation. Das wurde stets immer wieder betont. Internationale Besuche, Prozessbeobachtungen und Briefe seien wichtige „ Arzneimittel“ zur Aufrechteerhaltung einer bedeutenden Infrastruktur zur Verteidigung von Menschenrechten.
BILD: Vor Gericht: Sebnem Korur Financi, Erol Önderuglu, Ahmet Nesin und Inan Kizilkaya – Istanbul, 11. Januar 2017. Quelle: TIHV/Twitter
Weiterhin möchten wir auf einen zweiten Prozessbericht von einer Privatperson, die gleichzeitig Mitglied des IPPNW ist, aufmerksam machen:
Unter Anklage: Menschenrechtsverteidiger*innen in der Türkei
„Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen in der Türkei sind in Gefahr – wir Menschenrechtsverteidiger müssen jeden Tag mit neuen Angriffen der Erdogan-Regierung rechnen. Aber wir werden nicht aufgeben. Für uns sind Menschenrechte wie die Luft zum Leben“, rief Prof. Sebnem Korur Fincanci, Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung und Trägerin des Medical Peace Work Award, den Mitgliedern der internationalen Delegation zu, die zur Prozessbeobachtung gekommen waren. Die Pathologieprofessorin, die bei zahlreichen Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen, national wie international, Folterspuren nachgewiesen hat, zeichnet sich durch ihre wissenschaftliche Expertise, ihren Mut und ihre Beharrlichkeit aus.
Am 11. Januar 2017 hatte sie ihren zweiten Gerichtstermin in Istanbul. Sie ist angeklagt, weil die türkische Staatsanwaltschaft ihr „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vorwirft – wegen ihrer Teilnahme an einer Solidaritätsaktion mit der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem im Mai 2016. Vor Gericht steht sie zusammen mit dem Journalisten Erol Önderoglu. Der dritte Mitangeklagte Ahmet Nesin befindet sich inzwischen im Ausland.
Doch wirklich brisant dürfte für die türkische Regierung der Report über die schweren Menschenrechtsverletzungen in Cizre sein, den eine Ärztedelegation der Menschenrechtsstiftung im März und April 2016 unter der Leitung von Fincanci verfasst hatte. Die dort beschriebenen Menschenrechtsverletzungen wurden auch von der Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights verifiziert und in einem Memorandum der EU-Menschenrechtskommission bestätigt. Doch obwohl alles, was Fincanci und die Menschenrechtsstitftung veröffentlicht haben, bekannt ist, sah sich das Gericht in Istanbul zu keiner substanziellen Anklage und Beweisaufnahme befähigt. Der Prozess wurde erneut auf den 21. März 2017 vertagt.
„Das ist ein politischer Prozess“, kommentiert Metin Bakkalci, der Generalsekretär der Menschenrechtsstiftung. „Die Regierung hat uns ins Visier genommen. Ein Mitarbeiter unserer Stiftung in Cizre, Dr. Serdar Küni, ist seit Oktober inhaftiert. Eine Anklage, die beschreibt, aufgrund welcher Straftat er in Untersuchungshaft genommen worden ist, gibt es nicht. Regierungsnahe Zeitungen schrieben, er habe Terroristen behandelt. Doch selbst wenn er das getan hätte, ist es doch die Pflicht eines Arztes, alle Menschen ungeachtet ihrer Religion oder ihrer Funktion zu behandeln.“
In einem Gerichtssaal nebenan fand noch ein weiterer berühmter Prozess statt – der gegen die Chefredakteure der Zeitung der Zeitung Cumhuriyet und gegen dessen Verleger: Can Dündar, Erdem Gül und Enis Berberoglu. Für die beiden Chefredakteure forderte der Staatsanwalt je 15 Jahre Haft, gegen Enis Berberoglu lebenslange Haft.
Die Prozesse gegen die Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung und gegen die Zeitung Cumhuriyet treffen wie auch die wichtigen andere Prozesse gegen die Opposition (z.B. den HDP-Führer Selahattin Demirtas, den investigativen Journalisten Ahmet Sik, die Autorin Asli Erdogan) die intellektuelle Schicht, die sich für die Lösung der Kurdenfrage mit den Mitteln der Demokratie einsetzt. Das autoritäre Regime versucht sie systematisch mundtot zu machen und ihre Existenz als Bürger zu vernichten. Mit der Anklage gegen die Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung Prof. Sebnem Korur Fincanci wird eine international anerkannte und herausragende Menschenrechtsorganisation angegriffen, eine Organisation, die sich seit über 30 Jahren im Kampf gegen die Folter verdient gemacht hat. Mit der Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der HDP und der Festnahme ihres Führungspersonals wird die Partei, die für die Lösung der Kurdenfrage im Rahmen einer demokratischen Lösung steht, vernichtet.
Die Zeitung Cumhuriyet ist bekannt für ihre erstklassigen investigativen Recherchen. Mit der Festnahme des Journalisten Ahmet Sik wird auch das Wissen und die Recherche darüber vernichtet, wie Präsident Erdogan über Jahrzehnte mit dem Prediger Fetullah Gülen und seinen Schulen zusammengearbeitet hat und wie man sich gegenseitig Positionen im Staat und Pfründe zuschanzte. Mit dem Prozess gegen die Romanautorin Asli Erdogan soll die gesamte Intelligenz getroffen werden, so wie schon auch die Existenz von tausenden und zehntausenden von Universitätsangehörigen, Lehrern, Beamten, Richtern und anderen, die es wagen, sich eine unabhängige Meinung und Haltung zu bewahren, durch die Regierung Erdogan vernichtet wurde.
In den durch den Bürgerkrieg zerstörten kurdischen Städten sind inzwischen von der Regierung eingesetzte Bürgermeister aktiv, die ein Aufbauprogramm für die zerstörten Wohnviertel leiten. Die Arbeit wird von AKP-treuen Firmen und Arbeitern durchgeführt. Die Kurden, die den früheren und inzwischen entlassenen HDP-Bürgermeistern nahestanden, sind allesamt entlassen, ohne Arbeit, ohne Existenz.
Angesichts dieser Vernichtungspolitik gegen die Intelligenz, die die Lösung der Kurdenfrage im Rahmen von demokratischen Prozessen vertritt, ist es überfällig, dass die Bundesregierung und die EU-Staaten handeln. Die Flüchtlingsproblematik darf nicht mehr als als Begründung für Deals mit der Erdogan-Regierung herhalten. Der Weg in die Diktatur, den die Türkei geht, schadet nicht nur den Menschen im eigenen Land, sondern auch Europa, das in seiner Identität auf Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit baut. Europa muss den MenschenrechtsverteidigerInnen in der Türkei Rückendeckung geben.